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Besuch im Schülerlabor Geisteswissenschaften

[25.02.2023 | Bericht Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften]BBAW 2

Ein Montagmorgen Anfang Juli. Warmer Wind dringt durch die offenen Fenster in den Einstein-Saal. Bald beginnen die Sommerferien, doch im Akademiegebäude wird noch konzentriert gelesen, sortiert und diskutiert. In kleinen Gruppen beugen sich die Schülerinnen der Carlo-Schmid-Oberschule Berlin-Spandau über Leinwände, an die sie kleine Zettel mit Gedichttiteln stecken. Der Deutsch-Leistungskurs der zwölften Klasse ist zu Gast beim „Schülerlabor Geisteswissenschaften“ der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW).

Heute steht die Poesie im Mittelpunkt, genauer gesagt die Naturlyrik des 21. Jahrhunderts, und die Frage, ob man Gedichte vermessen kann.
Was das konkret bedeutet, zeigt sich schnell: Nach einer Einführung in das wissenschaftliche Systematisieren, das den Schülerinnen bislang primär aus der Biologie und anderen Naturwissenschaften vertraut ist, dürfen sie sich selbst versuchen. Aus einer Reihe von Naturgedichten, die sie vorab gelesen haben, gilt es, eigenständig Ordnungskriterien abzuleiten und diese einzelnen Werke zuzuweisen. Das ist gar nicht so einfach, schließlich kann man sich der Lyrik auf ganz unterschiedliche Weise nähern: über den Inhalt, etwa Pflanzen und Tiere oder die aufgegriffenen Naturelemente, oder über die Form, wie die Anzahl der Strophen und Verse, oder das Reimschema. Sogar die Einteilung in gute und schlechte, einfache und schwere Gedichte ist erlaubt. In den Gruppen wird rege diskutiert. Mit Stecknadeln ordnen die Schülerinnen die Gedichte entsprechend des gewählten Kriteriums auf der Leinwand an und stellen das Ergebnis anschließend der Runde vor. Yvonne Pauly, Projektkoordinatorin des Schülerlabors Geisteswissenschaften, konfrontiert die Schülerinnen mit der Frage, ob auch das Geschlecht der Autorinnen und Autoren ein sinnvolles Kriterium sein könne. Für das Textverständnis spiele das eigentlich keine Rolle, äußern sich mehrere, denn „weibliche“ oder „männliche“ Lyrik gebe es nicht. Andererseits werde das Verfassen von Gedichten noch immer primär mit Männern in Verbindung gebracht. Vor diesem Hintergrund sei es dann schon wichtig, auch diese Kategorie im Blick zu haben, um sich bestehende Wahrnehmungsmuster bewusst zu machen.

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Ein preisgekröntes Projekt mit überregionaler Leuchtturmwirkung
Das Schülerlabor richtet sich gezielt an Leistungskurse aus dem geisteswissenschaftlichen Fächerspektrum an Berliner Gymnasien und Sekundarschulen. Ein Schwerpunktfach ist Deutsch, für das regelmäßig Reihen konzipiert werden. Die Idee zum Schülerlabor entstand 2006. Es war das erste Projekt dieser Art, in dem die Idee des Schülerlabors auf den Bereich der Geisteswissenschaften übertragen wurde – ein Erfolgsrezept, das mittlerweile in anderen Bundesländern Nachahmer gefunden hat.

Gewinnbringende Ergänzung des Schulunterrichts
Im Einstein-Saal zeigt die Uhr inzwischen kurz nach elf an: Zeit für eine Pause. Dafür begibt sich der Kurs eine Etage höher auf die Dachterrasse der Akademie, wo belegte Brötchen und Getränke bereitstehen. Die Schülerinnen setzen sich in die Sonne. Der Blick auf die umliegende Dächerlandschaft von Berlin-Mitte verfehlt seine Wirkung nicht: In der Nähe glitzern die Kuppeln von Dom und Schloss. Gelegenheit, einmal nachzufragen, wie den Schülerinnen der Besuch in der Akademie bisher gefallen hat.
Der achtzehnjährigen Cheyenne Skibbe eröffnete das Nachdenken über das Geschlecht von Autorinnen und Autoren eine neue Perspektive. Das Ableiten von Kategorien gefiel Mascha Stüber am meisten: „Jeder konnte selbst entscheiden und hatte dann seine eigenen Ideen, was er in dem Gedicht sah. Das war bis jetzt das Interessanteste.“ Die Akademie der Wissenschaften kannte sie vorher noch nicht. „Ich bin in Berlin geboren“, erzählt Fabienne Behrendt, die neben ihr sitzt, „aber hier fühle ich mich wie eine Touristin, also die meiste Zeit. Auf jeden Fall ist es schön, so etwas mal zu sehen und mit der Schule zu unternehmen.“ Die drei Schülerinnen sind sich einig, dass das Schülerlabor eine gute Möglichkeit darstellt, um herauszufinden, ob einem das geisteswissenschaftliche Arbeiten liegt – gerade hinsichtlich der Zeit nach dem Abitur.

Auch die Erfahrung von Koordinatorin Yvonne Pauly bestätigt, dass das Schülerlabor für die Teilnehmenden eine wichtige zusätzliche Informationsquelle zur wissenschaftlichen Praxis darstellt: "Was man in einer Akademie wirklich gut lernen kann, ist, dass man Praktiken hinterfragt und transparent macht, wo die herkommen. Ich glaube, das gilt für ein gutes naturwissenschaftliches Schülerlabor ganz genauso wie für ein gutes geisteswissenschaftliches. Dass man sich Rechenschaft ablegt über das, was man da eigentlich tut, wenn man zum Beispiel einen Textvergleich anstellt. Was bringt das, warum mache ich das? Ist das überhaupt eine wertvolle Fragestellung? Das ist es, denke ich, was die verschiedenen Staffeln des Schülerlabors gemeinsam haben.“
Diesen Eindruck bestätigt Lehrer Martin Dorr, der heute die Klasse der Carlo-Schmid-Oberschule ins Schülerlabor begleitet. Er ist überzeugt, dass es einen ungleich größeren Effekt hat, wenn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre Arbeit erklären, als wenn dies nur vonseiten der Lehrkräfte erfolgt: „Wir Lehrer sagen den Schülern oft: ‚Du musst das jetzt nach den und den Gesichtspunkten analysieren‘, aber die Sinnhaftigkeit erschließt sich nicht automatisch. Wenn jetzt aber Menschen, die dies tatsächlich in der Tiefe studiert haben, mit Leidenschaft eine literaturwissenschaftliche Sichtweise vermitteln, bekommt das eine ganz andere Bedeutung.“ Barbara Tinnefeldt, die Lehrerin des Deutsch-Kurses der Carlo-Schmid-Oberschule, hat die  Methodik überzeugt: „Die Idee mit der Leinwand fand ich wirklich gut.“ Die offene Herangehensweise ließe den Schülerinnen viel Freiraum für eigene Kreativität. Noch wichtiger ist ihr etwas Anderes: Ihre Schülerinnen und Schüler sollen erfahren, dass es reichlich Möglichkeiten gibt, sich auch außerhalb des schulischen Kontextes mit Literatur zu beschäftigen. „Wir gehen ins Theater und zu Dichterlesungen. Ja, wir versuchen alles, um den Schülern das Fach auf vielfältige Weise zu zeigen.“ Diese unterschiedlichen Zugänge zu vermitteln, sei nach den Einbußen, die die Corona-Jahre für den Unterricht und die Abiturvorbereitung bedeutet haben, umso wichtiger. Ihr Kollege Martin Dorr ergänzt: „Was wir in der Schule natürlich nie haben, ist die Möglichkeit, sich wie heute einmal vier Stunden am Stück vertiefend einem Gegenstand zu widmen. Dafür ist der Schulalltag mit seinen kurzen Zeitslots sonst einfach gar nicht geeignet.“ Für ihn persönlich sei das Schülerlabor ebenfalls bereichernd gewesen, meint Dorr. „Im Grunde genommen war das auch für mich ein Input der kreativen Auseinandersetzung. Und das wiederum kommt dann indirekt wieder bei den Schülern an.“
Um dreizehn Uhr geht das Schülerlabor Geisteswissenschaften zu Ende. Ein intensiver Vormittag liegt hinter den Schülerinnen. Ein wenig ist ihnen die Erschöpfung anzusehen. Sie haben Texte gelesen und gehört, kategorisiert und vermessen und auf diese Weise die Bandbreite literaturwissenschaftlicher Techniken kennengelernt. In der Abschlussrunde dankt die Schülerin Stefanie Bias den beiden Workshop-Leiterinnen: Man merke, dass sie von den behandelten Texten begeistert seien. Diese Leidenschaft – und der Ausblick von der Dachterrasse – habe ihr am besten gefallen.

Lukas Beichler, BBAW (gekürzt)
Den vollständigen Text finden Sie hier
 https://www.bbaw.de/files-bbaw/publikationen/jahresmagazin/jahresmagazin-2023/BBAW_Jahresmagazin_2023_Webversion_PDF-A.pdf

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